Dienstag, Mai 16, 2006

Die Achterbahn der Gefühle

Okay, ich gebe zu, der Titel ist mal wieder äußerst Phrasenschwein-verdächtig, aber, wie es in solchen Angelegenheiten nun mal oft der Fall ist, auch sehr zutreffend.
Die Situation: Samstagnachmittag, halb Vier. Der letzte Spieltag der Bundesliga-Saison 2005/06. Da ich leider nicht live vor Ort im Stadion sein konnte und auch darauf verzichtete, in der Nachbarschaft bzw. im Bekanntenkreis die große Bundesliga-Livekonferenz eines Bezahlsenders anzusehen, war das heimische Radio fester Bestandteil der folgenden Stunden. Das Szenario mit den beiden bedeutenden Endspielen an diesem Tag dürfte ja eigentlich allen irgendwie bekannt sein und einer der involvierten Vereine war mein Lieblingsclub, die blau-weiß-schwarze Macht von der Elbe, die ausgerechnet gegen den großen Nordrivalen um den direkten Einzug in die Champions League spielte.
Eine knappe halbe Stunde plätscherte das Geschehen mehr oder weniger an mir vorbei. Bis auf das Lauterer Tor im Abstiegsendspiel waren eigentlich nur unbedeutende Tore gefallen, der Berichterstatter aus Hamburg hatte bisher noch nichts wirklich aufregendes erzählt. Doch dann wurde die Hoffnung, dass es doch am besten einfach beim jetzigen Spielstand blieben möge, durch den Zwischenruf des Kommentarors jäh unterbrochen: "Tor in Hamburg!" Um die Spannung möglichst lange offen zu halten, wer denn nun das Tor geschossen hätte, redete der Mann am Mikrofon erst nur etwas von einem jubelnden Spieler aus Hamburg (wovon drei auf dem Platz standen - zwei allerdings im Werder-Trikot und nur einer beim HSV), ehe er mit der Auflösung vom "grün-orangenen Trikot" den ersten richtigen Anhaltspunkt gab und kurze Zeit später den Namen Klasnic hinzufügte. Die Schultern sackten herunter: "Nein... scheiße" hallte es durch die Leere, die in meinem Kopf entstand. Das Spiel würde aber noch eine gute Stunde dauern, so dass noch genügend Zeit blieb, dass sich an dem Ergebnis etwas zum Guten ändern könnte.
Bis zur Halbzeit geschah dann allerdings nichts besonderes mehr, doch gleich zu Beginn der zweiten Hälfte war wieder der Ruf vom "Tor in Hamburg!" zu vernehmen. "Bitte..." Dann kam sie, die erste Erlösung: Sergej Barbarez hatte den Ausgleich erzielt - ein stummer Schrei der Freunde (der Mund war weit aufgerissen, doch kein Ton kam heraus). Mit geballten Fäusten sprang ich vom Sessel, in den ich mich schon die ganze Zeit hereingefläzt, gekauert, beinahe gelegt hatte, auf. Ja! Die Anspannung fiel erst einmal von mir ab.
Den Großteil der Zeit waren die Kommentatoren aus Hamburg und Wolfsburg im Wechsel zu vernehmen mit ausführlicheren Schilderungen der Spielsituationen, wohingegen die unbedeutenderen Spiele im Rest der Republik eher kürzer angeschnitten wurden. Verständlich, war hier doch die größere Spannung vorhanden. Immer wieder erzählten der Mann in Hamburg von guten Chancen, die sich den Hamburgern ergaben, jedoch nicht nutzen konnten (Ailton sollte sich vielleicht einen anderen Namen auf's Trikot beflocken lassen: was heißt Unfähigkeit auf portugiesisch? Oder Volltrottel? Oder Chancentod? Vielleicht würde aber auch Zickler II oder Takahara II gehen...). Flehen und hoffen bestimmten die gefühlsmäßige Großwetterlage. Macht eins von den Dingern doch mal rein. Oder fangt euch doch bitte zumindest keinen mehr ein. Bitte, lass bei dem Spiel nichts mehr passieren. Doch eine gute Viertelstunde vor Schluss war alles Flehen vergebens. Wieder stieß es "Tor in Hamburg" in den Vortrag eines anderen Radioreporters hinein. Anspannung. "Der 25. Saisontreffer" hieß es dann einleitend. Verfucht! Es war gleich klar, dass damit nur Miroslav Klose getroffen hatte und das wohl nicht ins eigene Tor (schließlich zählen Eigentore nicht bei der Torjägerstatistik). Verdammt, das kann doch nicht wahr sein, bitte nicht...
Der Kopf verschwand im Kragen der HSV-Trainingsjacke, die Hände stützten den Kopf nur schwerlich.
Die nächste Zigarette wurde gedreht, das Radio wieder äußerst laut gestellt und ich verschwand zum vierten oder fünften Mal vor die Haustür, um die Aufregung zumindest kurzfristig ein bisschen aufzulösen. Die Nachbarin (ihr Mann, immerhin ehemaliger Regionalligaspieler und -trainer, dürfte wohl gerade vorm Fernseher hängen) war gerade dabei, die Auffahrt zu fegen und grüßte herüber. "Na, machst du ne Pause?" - "Hab das Radio nur laut an, damit ich hier draußen auch was höre." - "Ist ja noch richtig spanndend." Ja, recht hatte sie da schon. Aber Werder führte und das durfte, angesichts der Reportage aus Hamburg, doch eigentlich gar nicht sein. Wenig später war ich dann wieder im Wohnzimmer und kurz darauf wurde ein Elfmeter in Hamburg vermeldet. Für Werder - von der Schilderung auch eine ganz umstrittene Entscheidung, wie die beiden Strafstöße, die Merk den Hamburgern verwehrt hatte. Erinnerungen wurden wach an das Saisonfinale 2001, als Merk schon einmal eine äußerst entscheidende Partie in Hamburg pfiff und erst einen Rückpass ahndete, den man unter Umständen auch hätte durchgehen lassen können und dann beim Freistoß die vielen kleinen Fouls übersah, die während der Ausführung so alle geschahen und so schließlich Andersons meisterschaftsbringenden Treffer anerkannte. Schimpftiraden, die niemand außer mir hören dürfte, klangen durch den Raum. Ohnemächtige Verzweiflung. Warum pfiff er jetzt dieses Elfer und keinen für die Hamburger vorher? Nur kurz war der Jubel nach Borowskis misslungener Ausführung. Die aufgestaute Wut suchte ein Ventil und fand die Schrankwand. Noch wenige Minuten waren zu spielen. Irgendetwas musste doch noch passieren. Irgendwas musste doch noch passieren. Kopenhagen in der ersten UEFA-Cup-Runde kam ins Gedächtnis. Da fiel das weiterbringende Tor erst in der Nachspielzeit. BITTE!
Doch es geschah nichts mehr und so zog ausgerechnet Werder noch am letzten Spieltag am HSV vorbei. Der große Traum war geplatzt. Dem HSV blieb der krönende Abschluss einer grandiosen Saison auf der Zielgerade (auch durch eigenes Verschulden) verwehrt. Enttäuschung, Wut (nicht zuletzt wenig später in der Sportschau auch noch angefeuert durch eine falsche Interpretation des passiven Abseits durch den Linienrichter - oder waren es zwei solcher Fehlentscheidung? Zumindest war die Perspektive bei Sportschau und dem aktuellen Sportstudio unterschiedliche und auch die Reporter - welche sich aber auch öfter mal in solchen Fällen irren - nannten unterschiedliche Namen), Ohnmacht, Hass, Ernüchterung, alles prasselte zugleich auf mich ein und diktierten das Gefühlsleben für Stunden. Erst später am Abend kam der Gedanke, dass nicht die bessere Mannschaft ein Spiel unbedingt gewinnt, nein, es ist die glücklichere Mannschaft, die den Sieg davon trägt. Und in diesem Fall nur ein weiterer Grund, warum ich Werder verabscheue!

3 Comments:

Blogger Oles wirre Welt said...

Es gewinnt, wer mehr Tore schießt. Der HSV hat besser gespielt, aber wer dermaßen hundertprozentige Chancen versiebt, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich das unter Umständen rächt. Ich hätt's dem HSV gegönnt und schiebe keinen derartig Hass erfüllten Abscheu gegen die Elbestädter. Und die CL-Quali ist ja immer noch machbar. Wenn sie die schaffen, sind sie umso verdienter drin. :)

17/5/06 13:22

 
Blogger Galen said...

Werder wäre in der CL-Quali immerhin gesetzt gewesen, der HSV ist es nicht - und darf sich eventuell dann auch mit Mannschaften wie Liverpool, Arsenal, Inter (falls Juve nicht die Meisterschaft nachträglich noch aberkannt wird), Florenz oder Valencia (wäre vielleicht ja noch ein ganz gutes Omen - UI-Cup-Finale...) auseinander setzen...

17/5/06 14:40

 
Blogger Galen said...

Getippt hattest du nämlich gerade eben nicht. Und der Kahn war auch schon weg. Also nur ein Angebot... *spliss*

17/5/06 15:06

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home