Freitag, Januar 27, 2006

Mein Brotmesser - Teil 1 (von 2)

Ein Tag im Leben
Das sollte es nun also gewesen sein? Er ließ die Seiten des Briefes aus den Händen gleiten, als ihn die volle Wucht des Geschriebenen überwältigte und sich eine vollkommene Leere einstellte. Es konnte, es durfte doch einfach nicht wahr sein, was sie dort geschrieben hatte. Die Gedanken verließen ihn, ebenso wie sie es gerade in ihren Worten getan hatte. Eine Weile saß er nur apathisch da. Feuchtigkeit sammelte sich in seinen Augen, die haltlos und starr in die Weite des Zimmers sahen, ohne jedoch etwas wahrzunehmen.
Erst endlose Minuten später kehrte sein Bewusstsein zurück. Er wischte leicht über die Tränenbahnen, die sich auf seinen Wangen abzeichneten, doch kaum hatte er sie halbherzig beseitigt, suchte sich die nächste von der Schwerkraft getrieben ihren Weg über sein Gesicht. Sein verschleierter Blick fiel auf den Tisch vor ihm. Er hatte gerade den Frühstückstisch gedeckt, als er hörte, dass der Postbote etwas in den Briefkasten geworfen hatte. Sofort war er hingelaufen und überrascht fand er einen Brief seiner Freundin darin. Was er als schöne Frühstückslektüre erwartet hatte, entpuppte sich allerdings als Appetitzügelndes Mittel.
Zwischen den Blättern des Briefes, die sich wie welkes Herbstlaub auf der Tischplatte vor ihm verteilt hatten, stach Omas altes Brotmesser hervor. Das Messer hatte nach ihrem Tod Einzug in seinen Hausstand erhalten. Du bist lange nicht an ihrem Grab gewesen, dachte er sich. Doch der Anblick rief sofort wieder Erinnerungen an seine Freundin wach, war es doch das Datum von Omas Geburtstag gewesen, an dem sie zusammenkamen. So entbehrte es nicht einer gewissen Schicksalhaftigkeit, dass er ausgerechnet mit diesem Messer den Brief geöffnet hatte.
Mühsam kramte er die Seiten des Briefes wieder zusammen und brachte sie in die richtige Reihenfolge, was nicht schwerfiel, hatte sie doch freundlicherweise Seitenzahlen darauf geschrieben. Er konnte es immer noch nicht so recht glauben, dass es wirklich aus sein sollte, darum machte er sich daran, ihn noch einmal zu lesen, in der Hoffnung, dass er sich das alles nur eingebildet hatte. Doch jede einzelne Zeile las sich wie schon beim ersten Mal und am Ende stand die traurige Gewissheit, dass sie es wirklich ernst meinte. Er ließ das letzte Treffen, die letzten Telefonate in seinen Gedanken Revue passieren. Nun erklärte sich auch, warum er sie am Telefon in letzter Zeit als irgendwie distanziert empfunden hatte, irgendwie hatte auch schon bei ihrem letzten Wiedersehen vor wenigen Wochen etwas zwischen ihnen gestanden. Trotzdem hatten sie sich vor ein paar Tagen noch für dieses Wochenende verabredet. Nur ein paar Stunden später hätte er zu ihr fahren wollen, doch nun wollte sie nicht mehr, dass er kommen würde.
Die Scheibe Brot, die er vor dem ersten Lesen des Briefes auf sein Frühstücksbrett gelegt hatte, war noch immer unangetastet und blieb es auch. Er machte sich nicht die Mühe abzuräumen und schlurfte langsam und lustlos, den Brief in der Hand, in sein Zimmer. Er nahm die Reisetasche, in denen schon der größte Teil der Sachen gepackt war, die er über das Wochenende hätte mitnehmen wollen, und stellte sie in den Schrank zurück. Er blieb noch kurz vor der geschlossenen Schranktür stehen und hämmerte ein paar Mal seinen Kopf dagegen, ehe er zum Bett hinüber ging und sich rücklings auf die Matratze seines Bettes fallen ließ. Er starrte an die weiß getünchte Decke. Ihr Brief ruhte auf seiner Brust.
Einzelne Sätze aus ihrem Brief kamen ihm in den Kopf. Sie wusste nicht, wann genau es angefangen hatte, aber irgendwann war ihr klargeworden, dass es so nicht weiterginge mit ihnen. Sie könne ihn nicht mehr so lieben, die Gefühle seien weg. Und dennoch wolle sie ihm nicht weh tun, ihn schützen, denn irgendwie liebte sie ihn immer noch, nur auf andere Art. Die gemeinsame Zeit sei wunderschön gewesen und nichts daran würde sie ungeschehen machen wollen. Für ihn machte es irgendwie keinen Sinn. Schon eher, dass sie glaubte, sich in jemand anderen verliebt zu haben. Aber das machte es noch schlimmer, erhöhte den Schmerz. Die Bettdecke saugte seine Tränen auf. Er ignorierte die Feuchtigkeit, die sich unter seinem Kopf langsam ausbreitete. Wie blanker Hohn kam es ihm vor, dass sie hoffte, sie könnten weiterhin Freunde bleiben.
Was sollte er nun machen? Sollte er trotzdem fahren? Leugnen, dass er den Brief schon erhalten hatte – manchmal brauchte die Post ja mal einen Tag länger – und sehen, wie sie auf seine Anwesenheit reagieren würde? Aber er war ein zu schlechter Schauspieler, um es wirklich durchziehen zu können und so ließ er den Gedanken wieder fallen. Doch irgendwie müsste sie dann mit seiner Gegenwart zurechtkommen, ihm dabei in die Augen sehen. Seine Reaktion erleben, den Schmerz, die Tränen, die Wut. Sie würde auch leiden müssen und das wäre schon eine gewisse Genugtuung für ihn. Es sollte auch ihr weh tun, wenn sie ihn schon so sehr verletzte. Dennoch konnte er sich nicht dazu durchringen. Vielleicht wäre es besser, er würde gar nicht reagieren. Befürchtete sie doch, er könne etwas Dummes anstellen. Solle sie ruhig eine Weile mit dieser Furcht leben, es geschähe ihr recht. Auch wenn sich durch ein paar gemeinsame Freunde das Bild nicht ewig aufrechterhalten ließe, könnte der Verdacht in ihr zumindest erwachen, wenn er sich nicht melden würde. Und wenn er wirklich etwas Dummes anstellen würde... Wäre Omas altes Brotmesser nicht ein passendes Werkzeug... Nein, im Endeffekt war er ohnehin viel zu feige dafür. Er verdrängte die Gedanken aus seinem Kopf. Sein Blick fixierte wieder die Zimmerdecke, als er eine Weile so auf dem Bett lag.
Die Stille lag schwer in seinem Zimmer, ein beinahe unerträglicher Ballast wie die schwüle Sommerluft vor einem Gewitter. Er raffte sich auf und ging zur Stereoanlage, irgendwas musste dieses drückende Schweigen vertreiben. Zielsicher suchte er eine CD aus dem Regal heraus: Greatest Lovesongs Vol. 666 von HIM – als die Band noch nicht so viele kannten und sie noch gut, na ja, zumindest besser als heute waren. Die ideale Musik, um sich so richtig schlecht zu fühlen und seinem Kummer freien Lauf zu lassen. Leider hatte er keinen Rotwein, geschweige denn irgendwelchen anderen Alkohol da, mit der die Leere in sich wieder hätte füllen können. Doch vielleicht war es ganz gut so. Er konnte sich auch so gut genug in seinem Leid suhlen, ganz für sich allein, hier auf seinem Bett, in dem die so manche schöne Stunde geteilt hatten. Doch daran wollte er sich jetzt nicht erinnern.
***
to be concluded

3 Comments:

Blogger Oles wirre Welt said...

Das ist wie Bordeaux. Dunkle, satte Pigmente, eine leichte Schwere, vollmundige Würze, ein düsterer Hauch von Blut, gewölbter Trauer. Gravitätisch.

29/1/06 16:28

 
Blogger Galen said...

Erklärt vielleicht auch meinen Hang zu trockenen Rotweinen, auch wenn's da nicht unbedingt ein Bordeuax ist, der mir auf den Tisch kommt. Eher Cabernet-Sauvignon, Merlot oder Shiraz, mit Vorliebe aus Australien.

30/1/06 12:25

 
Blogger Oles wirre Welt said...

Haarspalter! Spliss-Gefahr bleibt omnipräsent! ;)

30/1/06 13:34

 

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